VIERZIG

Ich wache früh auf. Da es der letzte Tag meines Lebens ist oder zumindest der letzte Tag des Lebens, das ich mir hier aufgebaut habe, möchte ich ihn so gut wie möglich nutzen. Und obwohl ich mir sicher bin, dass ich wieder mit lauten Sprechchören von Freak! und Hexe! begrüßt werde, macht es einen gewaltigen Unterschied zu wissen, dass ich es nur noch dieses letzte Mal über mich ergehen lassen muss.

An der Hillcrest High (der Schule, an die ich zurückkehre), habe ich massenhaft Freunde, was das Hingehen von Montag bis Freitag wesentlich angenehmer, ja sogar zu einem Vergnügen macht. Und soweit ich mich erinnern kann, war ich nie versucht zu schwänzen (wie ich es hier die ganze Zeit bin), und ich war auch nicht deprimiert, weil ich nicht dazugehört hätte.

Und, ehrlich gesagt, glaube ich, dass ich genau deswegen so scharf darauf bin zurückzukehren. Denn abgesehen von der naheliegenden Vorfreude darauf, wieder mit meiner Familie zusammen zu sein, erleichtert es mir die Entscheidung schon sehr, bald Freunde um mich zu haben, die mich mögen und akzeptieren und bei denen ich so sein kann, wie ich bin.

Eine Entscheidung, über die ich nicht zweimal nachdenken würde, wenn Damen nicht wäre.

Und obwohl ich mich nicht damit abfinden kann, dass ich ihn nie wiedersehen werde - nie wieder seine Haut fühlen, seinen warmen Blick oder seine Lippen auf meinen spüren werde -, bin ich bereit, alles aufzugeben.

Wenn das bedeutet, mein altes Ich wiederzubekommen und zu meiner Familie zurückzukehren, dann gibt es keine andere Wahl.

Ich meine, Drina hat mich getötet, damit sie Damen für sich haben konnte. Und Damen hat mich zurückgeholt, damit er mich für sich haben konnte. Und sosehr ich ihn auch liebe, sosehr mir auch das Herz bei dem Gedanken schmerzt, ihn zu verlieren, weiß ich, dass er in dem Moment, als er mich ins Leben zurückgeholt hat, in die natürliche Ordnung der Dinge eingegriffen und mich zu etwas gemacht hat, was ich nie hätte sein sollen.

Und jetzt ist es meine Aufgabe, alles wieder rückgängig zu machen.

Ich stehe vor dem Schrank und greife nach meiner neuesten Jeans, einem schwarzen V-Pulli und den noch relativ neuen Ballerinas - all das, was ich in der Vision trug, die ich gesehen habe. Dann fahre ich mir mit den Fingern durchs Haar, trage ein bisschen Lipgloss auf, mache die winzigen Brillant-Ohrstecker rein, die mir meine Eltern zum sechzehnten Geburtstag gekauft haben (da sie garantiert merken würden, wenn sie weg wären), und lege das kristallbesetzte Armband an, das mir Damen geschenkt hat und das in dem Leben, in das ich zurückkehre, eigentlich keinen Platz hat, aber ich werde es auf keinen Fall hier lassen.

Ich schnappe mir meine Tasche, sehe mich ein letztes Mal in meinem lächerlich großen Zimmer um und gehe hinaus. Einen abschließenden Blick will ich unbedingt noch auf ein Leben werfen, das mir nicht immer gefallen hat und an das ich mich höchstwahrscheinlich gar nicht erinnern werde, aber ich muss mich trotzdem von ein paar Leuten verabschieden und ein paar Dinge klären, ehe ich endgültig gehe.

Sowie ich auf den Schulparkplatz einbiege, halte ich angestrengt Ausschau nach Damen. Ich suche ihn, sein Auto, irgendwas, irgendeinen winzigen Anhaltspunkt, was auch immer ich kriegen kann. Ich will so viel wie irgend möglich von ihm sehen, so lange es nur geht. Und ich bin enttäuscht, als ich ihn nicht finde.

Ich gehe in Richtung Klassenzimmer, wobei ich versuche, nicht auszurasten oder vorschnelle Schlüsse zu ziehen und überzureagieren, nur weil er noch nicht da ist. Denn obwohl er immer normaler wird, weil das Gift allmählich die jahrhundertelangen Entwicklungen zerfrisst, gehe ich davon aus, dass der Tiefpunkt noch ein paar Tage auf sich warten lässt, nachdem ich ihn gestern gesehen habe und er nach wie vor sagenhaft und supersexy aussah und weit davon entfernt war zu altern.

Außerdem weiß ich, dass er irgendwann auftauchen wird. Warum auch nicht? Er ist der unbestrittene Star dieser Schule. Der Bestaussehende, der Reichste, derjenige, der die tollsten Partys gibt - zumindest habe ich das gehört. Er kriegt praktisch stehende Ovationen dafür, dass er einfach nur kommt. Und jetzt möchte ich mal wissen, wer dem widerstehen kann?

Ich betrachte all die Leute, mit denen ich nie ein Wort gewechselt habe und die auch nie mit mir gesprochen haben, außer wenn sie mir eine Gemeinheit nachgerufen haben. Und obwohl ich mir sicher bin, dass sie mich nicht vermissen werden, wüsste ich doch gern, ob ihnen überhaupt auffallen wird, dass ich weg bin. Oder ob alles so werden wird, wie ich es mir vorstelle - ich kehre zurück, sie kehren zurück, und die Zeit, die ich hier verbracht habe, ist bestenfalls ein Leuchtpunkt auf ihrem Bildschirm.

Ich hole tief Luft und gehe in meinen Englischkurs, darauf gefasst, Damen an Stacias Seite zu finden, doch stattdessen sitzt sie allein da. Ich meine, sie tratscht wie gewohnt mit Honor und Craig, doch Damen ist nirgends zu sehen. Und als ich auf dem Weg zu meinem Platz an ihr vorbeigehe und schon damit rechne, dass sie mir irgendetwas vor die Füße wirft, ernte ich bloß eisernes Schweigen, eine hartnäckige Weigerung, mich überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn mir ein Bein zu stellen, was mir ein Gefühl von Angst und Unbehagen einjagt.

Nachdem ich mich auf meinen Platz gesetzt und meine Sachen zurechtgelegt habe, verbringe ich die nächsten fünfzig Minuten damit, zwischen der Uhr und der Tür hin und her zu schauen, während meine Beklommenheit von Sekunde zu Sekunde wächst. Ich male mir alle möglichen Horrorszenarios aus, bis es endlich klingelt und ich hinausrase. Als er zur vierten Stunde noch immer nicht aufgetaucht ist, stehe ich kurz vor einer totalen Panikattacke, bis ich schließlich in den Geschichtskurs komme und feststelle, dass auch Roman verschwunden ist.

»Ever«, sagt Mr. Munoz, als ich neben ihm stehe und auf Romans leeren Platz starre, während sich die Angst in meinem Magen ballt.

»Du hast eine ganze Menge nachzuholen.«

Ich sehe ihn an und weiß, dass er über meine Fehlstunden sprechen will, meine unerledigten Hausaufgaben und andere unwichtige Themen, von denen ich nichts hören will. Und so spurte ich zur Tür hinaus, renne über den Schulhof und an den Lunchtischen vorbei, ehe ich am Straßenrand stehen bleibe und erleichtert aufatme, als ich Damen sehe.

Oder vielmehr nicht ihn, sondern sein Auto. Den schicken schwarzen BMW, der ihm so viel bedeutet hat und der nun von einer dicken Schicht Schmutz und Schlamm überzogen ist und ziemlich schief im Parkverbot steht.

Trotz seines verdreckten Zustands starre ich den Wagen an, als wäre er das Schönste, was ich je gesehen habe, denn ich weiß, wenn sein Auto hier ist, ist auch er hier. Und alles ist in Ordnung.

Und gerade als ich mir überlege, ob ich ihn umparken soll, damit er nicht abgeschleppt wird, räuspert sich jemand hinter mir, und eine tiefe Stimme sagt: »Entschuldige, aber müsstest du nicht im Unterricht sein?«

Ich wende mich um und stehe vor Direktor Buckley. »Ähm, ja, schon«, sage ich, »aber ich muss erst noch ...«Ich zeige auf Damens falsch geparkten BMW, als täte ich nicht nur meinem Freund einen Gefallen, sondern auch noch der Schule.

Doch Buckley interessiert sich weniger für Parksünder, sondern mehr für wiederholte Schulschwänzerinnen wie mich. Da er immer noch unter unserem letzten unseligen Zusammenstoß leidet, als Sabine meine Strafe von Rauswurf auf Suspension heruntergehandelt hat, mustert er mich mit schiefem Blick und sagt: »Du hast zwei Möglichkeiten: Ich kann deine Tante anrufen und sie bitten, ihren Arbeitsplatz zu verlassen und hierherzukommen, oder ...«Er hält inne und versucht, mich auf die Folter zu spannen, obwohl man keine Hellseherin zu sein braucht, um zu wissen, worauf er hinauswill. »Oder ich kann dich zurück in den Unterricht begleiten. Was wäre dir lieber?«

Einen Moment lang bin ich versucht, mich für die erste Möglichkeit zu entscheiden - nur um zu sehen, was er dann macht. Doch schließlich trotte ich hinter ihm drein in meine Klasse. Seine Schuhe hämmern über den Asphalt, während er mich über den Hof und den Gang entlangführt und mich an der Tür zu Mr. Munoz' Klassenraum abliefert. Mein Blick fällt auf Roman, der nicht nur brav auf seinem Platz sitzt, sondern den Kopf schüttelt und lacht, während ich mich auf meinen schleiche.

Und obwohl Mr. Munoz inzwischen an mein unberechenbares Verhalten gewöhnt ist, ruft er mich extra oft auf. Er stellt mir alle möglichen Fragen zu historischen Ereignissen, darunter solche, die wir durchgenommen haben, und solche, die wir nicht durchgenommen haben. Mein Kopf ist so voll von Roman und Damen und meinen anstehenden Plänen, dass ich nur ganz mechanisch antworte. Ich sehe die Antworten in seinem Kopf und gebe sie mehr oder weniger wörtlich wieder.

Schließlich fragt er: »Und jetzt sag mal, Ever, was hatte ich gestern zum Abendessen?«

Und ich antworte ganz automatisch: »Zwei Stück übrig gebliebene Pizza und anderthalb Gläser Chiana.« Meine Gedanken sind derart in meine privaten Dramen verstrickt, dass es einen Moment dauert, bis ich mitkriege, dass er mit offenem Mund vor mir steht.

Ja, alle sitzen mit offenem Mund da.

Alle außer Roman, der noch lauter lacht.

Als es klingelt und ich sofort zur Tür hinausrennen will, verstellt mir Mr. Munoz den Weg und sagt: »Wie machst du das?«

Ich presse die Lippen zusammen und zucke mit den Schultern, als hätte ich keine Ahnung, wovon er spricht. Es ist klar, dass er nicht lockerlassen wird, denn er fragt sich das schon seit Wochen.

»Woher weißt du das alles?«, fragt er und sieht mich aus schmalen Augen an. »Über willkürliche historische Fakten, die wir kein einziges Mal durchgenommen haben - und über mich?«

Ich blicke zu Boden und hole tief Luft, während ich überlege, was es schaden kann, ihm einen Knochen hinzuwerfen. Ich meine, ich verschwinde heute Nacht, und wahrscheinlich wird er sich sowieso nicht mehr daran erinnern, also macht es doch bestimmt nichts aus, wenn ich ihm die Wahrheit sage, oder?

»Ich weiß es nicht«, sage ich achselzuckend. »Eigentlich tue ich gar nichts. Die Bilder und Daten erscheinen einfach in meinem Kopf.«

Er sieht mich an und ringt mit sich, ob er mir glauben soll oder nicht. Und da ich weder die Zeit noch den Wunsch habe, ihn zu überzeugen, ihn aber trotzdem mit einem guten Gefühl zurücklassen möchte, sage ich: »Zum Beispiel weiß ich, dass Sie weiter an Ihrem Buch schreiben sollten, weil es eines Tages veröffentlicht werden wird.«

Er reißt Mund und Augen auf, und seine Miene schwankt zwischen wilder Hoffnung und völligem Unglauben.

Und obwohl es mich fast umbringt, obwohl mir schon allein bei dem Gedanken schlecht wird, muss ich noch etwas sagen, einfach weil es das Richtige ist. Außerdem, was kann es schon schaden? Ich verschwinde ohnehin, und Sabine hat es verdient, ausgeführt zu werden und sich ein bisschen zu amüsieren. Und abgesehen von seiner Vorliebe für Boxershorts mit Rolling-Stones-Motiven, Songs von Bruce Springsteen und seinem Renaissancefimmel wirkt er harmlos. Ganz zu schweigen davon, dass nicht viel daraus wird, weil ich ganz deutlich gesehen habe, dass sie mit einem Typen zusammenkommt, der in ihrem Gebäude arbeitet...

»Sie heißt Sabine«, sage ich, ehe ich es mir anders überlegen kann. Als ich seinen verwirrten Blick sehe, füge ich hinzu: »Sie wissen schon, die zierliche Blondine aus dem Starbucks? Die Ihnen Ihren Kaffee übers Hemd gekippt hat? Die, an die Sie andauernd denken müssen?«

Völlig sprachlos sieht er mich an. Da ich es dabei belassen möchte, gehe ich auf die Tür zu, werfe allerdings noch einen Blick zurück. »Sie brauchen keine Angst zu haben, sie anzusprechen. Ehrlich. Fassen Sie sich ein Herz, und gehen Sie auf sie zu. Sie werden sehen, dass sie echt nett ist.«

 

Der blaue Mond
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